Noten

16. Juni 2025

Quelle: Artofit

Für diesen Test hatte ich nichts gelernt. Ich war nervös. Wird es auch so gut gehen, wie es meine Freunde vorhergesagt hatten?

«Du hast immer nur Sechser, diese Prüfung schaffst du locker, ohne zu lernen», hatten sie gesagt.  

Danach hatten sie mir lachend auf die Schulter geklopft und gesagt:

«Wetten wir zehn Franken?»  

 Ich hatte keine Wahl, denn wenn ich keinen Sechser habe … ach egal. Entweder verliere ich alles oder ich gewinne alles, hatte ich gedacht. Also hatte ich diesen Deal geschlossen, versprochen, dass ich nicht lernen werde. Schon das war schwierig aufgrund meines Vaters. 

«Viel Glück, Cyan», sagte mein Lehrer.

 Ich schaute ertappt und aus meinen Gedanken gerissen zu ihm hoch. Er schaute mich prüfend an und ging dann weiter. Auf meinem Pult lag die umgekehrte Prüfung. Nervös steckte ich losgelöste Haarsträhnen in meinem strengen Zopf zurück. Ich drehte die Prüfung um und las die Fragen fieberhaft durch. Und dann ein zweites Mal. Und ein drittes Mal. Ich wendete und wendete verzweifelt die Testseiten. Einige Köpfe drehten sich schon zu mir. Dann vergrub ich meinen Kopf verzweifelt zwischen meinen Händen. Ich hatte versagt. 

Meine Hände waren schweissnass und mein Zopf schon ganz unordentlich. Ich stand auf und gab die Prüfung ab. Der Lehrer schaute mich halb mitleidend, halb prüfend an. Seinem Blick ausweichend, verabschiedete ich mich. Draussen erwarteten mich schon meine Wettgegner und schauten mich erwartungsvoll an. Mit einem erschlagenen Blick bestätigte ich Ihre Hoffnungen. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich falsches Mitleid, und ich schaute weg.  

«Wir haben dein Geheimnis gefunden! Du lernst einfach zu viel», sagte eine. 

«Das wird weh tun», sagte ein anderer schadenfroh.

Gedemütigt nahm ich ohne Worte meinen Rucksack, richtete wieder meinen Zopf zurecht und ging mit gesenktem Blick aus dem Schulhaus raus. 

Als ich die Tür unseres Hauses öffnete, stieg der Geruch von Parkettreiniger und frisch gebackenem Kuchen in meine Nase. Meine Mutter stand im Gang und begrüsste mich. «Willkommen nach Hause, Cyan, ich habe Muffins für dich und deinen Vater gemacht. Du kannst dir eins nehmen.»

«Danke. Ich nehme mir gerne später noch eins.»

Prüfend schaute sie mich einige Sekunden an und nickte dann sachlich. Ihr Blick ausweichend, ging ich in mein Zimmer. Ich legte meinen Rucksack auf mein sauber gemachtes Bett ab und genoss die Stille unseres Hauses, als eine laute Stimme durch meine geöffnete Tür ertönte:

«Wie war die Prüfung, Cyan?»

 Ich erschrak. Mir war nicht bewusst gewesen, dass mein Vater so früh von der Arbeit zurückgekommen war. 

«Cyan?», rief er. 

«Ja, ich komme schon …» Ich stand gegen meinen Willen wieder auf und ging in die Küche. 
Mein Vater empfing mich mit einem strengen Blick.  

«Ja, gut.» Er durchbohrte mich erbarmungslos mit seinem Blick. 

 «Besser, dass du dich wieder verbesserst, denn deine letzte Fünf war enttäuschend.» 

« Es tut mir wirklich leid, Vater, der heutige Test ist sicher besser», sagte ich und richtete meinen Blick verschämt auf den Boden. Lügen waren hier offensichtlich den letzten Ausgang. 

«Nun, das hoffe ich.» Er taxierte mich mit einem strengen Blick.  

Es windete so stark, dass sich aus meinem Zopf einige Strähnen lösten. Das war mir dieses Mal egal, ich strich sie nur rasch aus meiner Sicht. Je näher ich mich unserem Haus näherte, desto schwerer wurde mein Dreier in meinem Rucksack. Heute hatte ich meine Prüfung zurückgekriegt. Schlechter konnte es nicht werden. Ich hatte zehn Franken verloren und die Reaktion von meinem Vater sollte nicht besser werden. Verkrampft versuchte ich, meine Beine weiter anzutreiben. Wie wird Vater reagieren? Soll ich die Wahrheit sagen? Das Haus kam immer näher. Jetzt könnte ich noch umdrehen. Meine Schritte wurden immer schneller, obwohl sich mein Verstand dagegen wehrte. Als sich noch Bauchkrämpfe dazu meldeten, fragte ich mich, warum ich das gemacht hatte. Ich hätte Vater gehorchen müssen. Diese verdammte Wette hatte mir sowieso nichts gebracht. Ohnehin wäre er auch nicht zufrieden mit einer Fünf Komma acht. Was macht dann zwei Komma acht Noten weniger? Sehr viel. Nun war ich vor unserer Haustür angekommen. Ich schaute den kleinen Bildschirm neben der Tür an. Es blinkte erwartungsvoll: «Bitte Fingerabdruck scannen.» Wie in einem Traum beobachtete ich, wie ich meinen Daumen dem Scanner näherte. Es klickte, die Tür entriegelt sich. Ich stiess die Tür auf und trat ein.  Einzelne Wortfetzen aus einem Gespräch erreichten mich. Entsetzt stellte ich fest, dass meine Tante und mein Onkel Bernharde hier waren. Als ich gerade die Tür möglichst leise schliessen wollte, schlug ein Luftzug die Tür zu.

«Cyan, bist du schon zu Hause? Zeige doch deiner Tante und deinem Onkel deine Prüfung. Du hast doch immer nur Sechser, richtig?»

Schallendes Gelächter brach im Wohnzimmer aus. Im letzten Satz meines Vaters hätte ich schwören können, einen Hauch einer Drohung gehört zu haben. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um einen Plan zu finden. Kann es noch schlimmer werden?

«Entschuldige mich bitte, Vater, ich muss dringend aufs WC!», rief ich mit zitternder Stimme zur Küche.

 Möglichst kontrolliert und leise ging ich in meinem Zimmer und beruhigte meinen Atem. Doch es beruhigte sich nicht, ich keuchte atemlos weiter. Zitternd ging ich ins Badezimmer, um mindestens meiner Ausrede gerecht zu werden. Ich füllte das Becken mit Wasser und tauchte mein Gesicht in das kühle Wasser. Einige Augenblicke blieb ich unter der Oberfläche, wie von der Realität abgeschnitten. Als ich keinen Sauerstoff mehr hatte, hob ich meinen Kopf wieder auf, leise nach Luft schnappend. Meinem Gesicht mit einem Tuch abtrocknend, dachte ich über die möglichen Szenarien, die sich in einigen Augenblicken abspielen könnten.

«Cyan, du verzögerst dich!»

«Ich komme gleich» Ich atmete tief ein und ging ins Wohnzimmer. 

Alle drei schauten mich an. Ich begrüsste, mein Zittern unterdrückend, meine Tante und meinen Onkel.  Wie Löwen im Zoo, die auf ihr Essen warten. Als hätten sie meine Gedanken erfasst, beäugten sie mich misstrauisch. In einem verzweifelten Moment hoffte ich, dass man meine Prüfung vergessen hatte. Doch mein Vater wird das nie vergessen.

«Wo ist denn deine Prüfung, Cyan?»

Mein Herz setzte aus.

«Ach, bin ich vergesslich. Ich hole sie gleich!»

In meinem Zimmer holte ich die Prüfung aus meinem Zimmer heraus. Ich atmete tief ein und trat im Wohnzimmer ein. Dort empfingen mich drei Paare erwartungsvolle Augen. «Du spannst uns ja auf die Folter, zeig uns jetzt diese Prüfung.» Ich zögerte kurz, doch gab ihm widerstandslos die Prüfung, die Augen auf den Boden gesenkt. Mein Zögern schien ihn zu verunsichern. Skeptisch nahm er die Prüfung. Er schaute angestrengt darauf, und schien verwirrt zu sein. Ein, zwei stille Augenblicke verstrichen.

«Geh in deinem Zimmer.» Seine ruhige, beherrschte Stimme war emotionslos.

 Nun schauten mein Onkel und meine Tante meinen Vater verwirrt an. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Ich wich seinem Blick aus.

«Cyan!», wiederholte er, «Geh in deinem Zimmer.»

Ich zuckte wieder zusammen, drehte mich um und ging.

Als ich meinen Prüfungsordner erblickte in meinem Zimmer, machte es Klick in meinem Kopf. Ein roter Schleier legte sich über meine Sicht, ich konnte nicht mehr klar denken. Von einer unbeschreiblichen Wut und Trauer erfasst, öffnete ich den Ordner und zerriss jede einzelne Prüfung. Still rannen Tränen der Wut über meine Wangen. Bei jeder zerrissenen Prüfung steigerte sich meine Wut, bis mein Zimmer sich wie ein Gefängnis für meine Wut anfühlte. Ich riss meine Tür auf und stürmte aus meinem Zimmer raus, raus aus unserem Haus. Draussen fühlte ich mich endlich befreit und ich lief zitternd im Wald. An einer Bank angekommen, liess ich meiner Wut freien Lauf: Ich schrie, bis es sich in ein verzweifeltes Weinen verwandelte. Und dann, glaube ich, riss ich meinen Zopf gewaltsam auf. Ich hatte genug. Es war mir egal, was andere dachten, es endete immer schlecht für mich, wenn ich darauf hörte. Jetzt entschied ich, was ich machte, und andere hatten dazu nichts zu sagen.

«Nichts zu sagen!»

 Meine Wangen waren nun von Tränen getränkt und meine Augen höchstwahrscheinlich rot geschwollen. Haare klebten an meinem Gesicht. Erschöpft und geschüttelt von Schluchzer setzte ich mich hin, den Kopf zwischen den Knien versteckt. Als ich mich wieder beruhigt hatte, stand ich langsam auf. Meine Sicht war inzwischen klarer. Ich band meine Haare in einen einfach gebundenen Zopf. Meine Kehle und meine Augen waren ganz trocken vom Weinen, ich hatte Durst und kalt. Meine feuchten Füsse, verrieten mir, dass ich in meiner Wut vergessen hatte, meine Schuhe anzuziehen. Ich müsste unbedingt nach Hause alles wieder zusammenflicken, was ich angerichtet habe. Aber, sodass ich mich nicht davor scheuen würde, meine Meinung meinen Eltern zu sagen. Als ich meinen Fingerabdruck scannte, schaute ich zuerst auf die Schuhablage. Meine Tante und mein Onkel waren weg. Ich öffnete vorsichtig die Tür. Aus dem Wohnzimmer hörte ich ein Schluchzen. Ich ging ins Wohnzimmer und sah meine Mutter, in eine Decke eingerollt, auf dem Sofa sitzen. Als ich mich gerade wegschleichen wollte, stand sie auf. Als sie mich sah, atmete sie geräuschvoll ein und wischte mit ihrem Handrücken über ihre feuchten Augen.  Sie öffnete den Mund, um etwas auszurufen, aber ich wollte meinen Vater nicht anlocken. Also schoss ich nach vorne und umarmte sie fest, fast zu fest. Sie atmete wieder hörbar überrascht ein. Nach einiger Zeit löste ich mich von der Umarmung.

«Es tut mir leid.»

«Das weiss ich, sonst hättest du mich nicht so …», sie zögerte, «umarmt.»

«Wie hat es Vater verkraftet?»

«Mmh, ernsthaft? Das weisst du besser selbst. Er ist unten schwimmen gegangen.»

«Es tut mir leid.»

«Das hast du schon gesagt. Aber ich sehe, dass du es wiedergutmachen möchtest.»

Sie nahm meine Hände in ihre und schaute mich eindringlich an.

«Es wird alles gut. Doch was du gemacht hast, hat dein Vater komplett aufgelöst.»

Ich öffnete schon meinen Mund, um etwas zu entgegnen. Doch sie lass mir dafür keine Zeit und redete weiter.

«Ich weiss, du hattest deine Gründe. Und wir können später darüber sprechen, was in den letzten Tagen genau passiert ist. Aber ich bin froh, dass du zurück bist. Möchtest du ein Muffin?» Mit Tränen in den Augen nickte ich dankbar und setzte mich neben ihr.